Dienstag, 28. Juli 2015

Rezension: Anatolien von Somer Sivrioglu

               
                                                  Cover: https://exlibris.blob.core.windows.net/covers/9783/8624/4763/3/9783862447633xl.jpg

Machen wir es kurz: Mir ist zum Heulen zumute. Selten so auf eine Neuerscheinung gefreut, selten so schwer enttäuscht worden. 

Erster Eindruck:
Leider kann ich euch über die gedruckte Ausgabe keine Auskunft geben, da mein Rezensionsexemplar im PDF-Format ist. Vorteil: Die Umwelt wird durch den elektronischen Versand geschont. Nachteile: Alle grossformatigen Fotos sind so stark verpixelt, dass ich über ihre Qualität kein Urteil abgeben kann. Ausserdem besitze ich keinen E-Reader und 350 Seiten am Computer durchzublättern bzw. lesen zu müssen, ist definitiv kein Vergnügen. 

Inhalt:
Was mir direkt ins Auge stach, waren die massiven Fehler bei den Mengenverhältnissen im ersten Kapitel. Bei den Simits (Sesamkringel aus Hefeteig) sollen insgesamt 435 ml Flüssigkeit und 300 Gramm Mehl zu einem elastischen Teig verarbeitet werden. In der Anleitung steht zwar, dass ein bisschen mehr Mehl untergeknetet werden soll, falls der Teig zu weich ist. Allerdings müsste in diesem Fall die Mehlmenge etwa verdoppelt werden. Für acht Stück werden ausserdem 350 Gramm Pekmez zum Tunken verlangt, die Hälfte davon ist erfahrungsgemäss mehr als ausreichend. Oh je, so ein Einstieg lässt nichts Gutes ahnen.

Weiter geht es mit dem Rezept für Finger-Pide: Ein halbes Kilo Mehl, 625 ml Flüssigkeit und dazu noch 50 ml Sonnenblumenöl. Coole Sache. Umgekehrt ist es bei den Teigrollen mit Haselnüssen. Wie man aus einem Kilo Mehl, zwei Eiern, 125 ml Öl und 125 Gramm Joghurt einen weichen, elastischen Teig zaubern kann, entzieht sich meiner Kenntnis. Die Brioche nach Balkanart werden mit drei Kartoffeln gefüllt. Ungefähre Grösse? Hilfreiche Gewichtsangabe? Fehlanzeige. Der Teig für die Pide mit viererlei Käse besteht aus 450 Gramm Mehl und völlig unzureichenden 100 ml Flüssigkeit. Für das Maisbrot mit Lauch und Sprotten, welches aus einem Kilo Mehl und je einem halben Kilo und Fisch und Gemüse besteht, sind nur 2 Teelöffel Backpulver als Lockerungsmittel vorgesehen. Rezepte in anderen Büchern verlangen für vergleichbare Mengen 1-2 Tüten Backpulver.

Und es hapert nicht nur bei den Backrezepten, auch sonst sind einige Mengenangaben reichlich merkwürdig. Beispielsweise Leber-Kebap: 300 Gramm Leberstücke werden mit fast ebenso viel Butter eingerieben. Viel zu viel hilft viel? Andererseits zeigt das Foto zu den Kretischen Eiern eine Pfanne voller Grünzeug, in deren Mitte vier gebratene Eier wie in einem Nest liegen. Mit einer Handvoll Wildkräuter ist das aber definitiv nicht zu bewerkstelligen. Ein oder zwei Salatsiebe voll wären eher angebracht, damit das Gericht für vier Personen reicht (vergleichbar mit dem Volumenschwund von Spinat). Beim Eintopf mit Hülsenfrüchten und Portulak ist dafür wieder Rätselraten angesagt. Wieviel wiegt ein Bund Portulak oder ersatzweise wilder Rucola? 50 Gramm? 100 Gramm? 250 Gramm? Mehr? Auf dem Foto ist der Eintopf zwar mit ein paar Blättchen dekoriert, aber es ist nicht erkennbar, wieviel unter die Hülsenfrüchte gemischt wurde. Wenig? Mehr? Viel? Ein weiteres Mysterium: Blätterteig für die Böregi wird mit kohlensäurehaltigem Mineralwasser und geschmolzener Butter zubereitet. Interessant. 

Auch Getränke und Suppen wurden vom Fehlerteufel nicht verschont. Salgam Suyu (fermentierter Karottensaft) wird mit einer doppelt so hohen Salzlösung angesetzt als gemeinhin empfohlen. Das behindert erstens die Milchsäuregärung und zweitens wird das Ergebnis viel zu salzig. Auch die Basilikumlimonade müsste meiner Meinung nach am Schluss noch kräftig verdünnt werden: 220 Gramm Zucker, Saft und Schalenabrieb (!) von 8 Zitronen und 500 ml Wasser ergeben zusammengemischt ein Konzentrat, pur würde ich das nicht trinken wollen. Dazu passt die kalte Mandelsuppe, die ebenfalls sehr konzentriert daher kommt: 360 ml Flüssigkeit, 125 ml Olivenöl, eine dicke Scheibe Brot und 160 Gramm Mandeln vereinen sich laut Rezept zu einer "Suppe", die in eine grosse (???) Schüssel umgefüllt wird. In der Zutatenliste für die pochierten Quitten kommen 660 Gramm Zucker vor, in der Anleitung wird aber nur etwa die Hälfte verarbeitet. Wohin mit dem Rest? Und dann hätten wir noch die Helva mit Joghurt-Himbeereis. Eine Masse aus 6 Eigelb, 3 Eiweiss, 220 Gramm Zucker, einem halben Liter Sahne und 2 Esslöffeln Joghurt soll ein "Joghurteis" ergeben. Danke, aber ich verzichte.

Neben dieser unvollständigen Aufzählung grober Fehler, mutet vieles andere geradezu harmlos an: Ayran wird mit Milch zubereitet, der Ersatz für Sucukwurst ist eine gefrorene, in dünne Scheiben geschnittene Hackfleischrolle, Manti werden als "Mini-Rindfleischklösschen" betitelt (es  handelt sich um eine Art Ravioli) und ähnliches mehr. Und lasst euch bloss nicht von Gerichten wie Jakobsmuscheln in Limettenmarinade mit Känguruh-Pastirma, Tintenfisch mit grünem Chili aus dem Wok oder Kalbskotelettes mit Blumenkohlpüree irritieren, denn der Autor lebt und arbeitet in Australien. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. 

Was meint der Magen:
Ich gebe ganz ehrlich zu, nach der enttäuschenden Lektüre hatte ich eigentlich gar keine Lust, aus dem Buch etwas nachzukochen. Trotzdem raffte ich mich auf, Kaymak aus Stärke, Rohmilch, Sahne und Butter "nachzubauen". Ergebnis: Undefinierbare Schlonze. Kein Vergleich zu frischem Kaymak. Sogar die lang haltbare Version aus der Dose ist um Klassen besser. Was spricht denn dagegen, Kaymak durch ähnliche, gute Milchprodukte zu ersetzen? Mascarpone, Crème double, Clotted Cream oder auch Schmand sind auf alle Fälle näher am Original, als dieser unbrauchbare Ersatzpudding. Die Hochzeitssuppe mit Huhn, Reis und Joghurt enttäuschte ebenfalls. Huhn und Kichererbsen werden ohne Salz gegart und unser Vogel war erst nach der verdoppelten Kochzeit durch. Das könnte natürlich auch an der Grösse des Tieres gelegen haben, denn wie in einigen anderen Rezepten auch, fehlt hier ebenfalls die Grammangabe (ungefähr hätte auch schon gereicht, wir wollen ja nicht pingelig sein). Die fertige Suppe kam nicht besonders gut an, Konsistenz und Geschmack glichen Reisbrei aus dem Babygläschen. Paprika- und Minzebutter konnten das Gericht leider auch nicht retten. Aus Trauer um das gute Huhn, habe ich dann das Handtuch geworfen.  

Fazit:
Wen wundert's: Keine Empfehlung meinerseits. Ausserdem möchte ich anmerken, dass ich die Versendung eines PDF-Dokumentes, anstelle eines reellen Rezensionsexemplares, ziemlich schäbig finde. Ich verfolge keinerlei finanzielle Ziele mit meinen Besprechungen. Just for fun und so. Aber für die vielen investierten Stunden, hätte ich gerne zumindest ein gedrucktes Exemplar als Gegenleistung. Überbezahlt bin ich deswegen noch lange nicht... Nur damit keine Missverständnisse entstehen: Die Rezension wäre genau gleich negativ ausgefallen, wenn ich stattdessen ein Buch vor mir liegen gehabt hätte.

Zum Abschluss noch das Kleingedruckte: Die in dieser Rezension geäusserten Ansichten und Meinungen sind zu 100% die Meinigen und wurden von niemandem beeinflusst.       
Das PDF wurde mir kostenlos vom Christian Verlag zur Verfügung gestellt.


9 Kommentare:

milchmaedchen hat gesagt…

Was soll man dazu sagen? Immerhin: Urteil eindeutig. Und meine Erfahrung ist, dass sich die Extreme – besonders gut, besonders mies – am besten aufschreiben lassen. Das Mittelmaß, das nervt...

Susanne hat gesagt…

Au weiah....Ich bin kurz um dieses Buch herumgetänzelt, habe dann aber Abstand genommen....dieses Jahr hatte ich schon 2 türkische Kochbücher, es ist erst mal gut. Jetzt bin ich ganz froh drum.
Die komischen Mengenangaben beim Backen kann ich mir ja noch fast erklären: in der Türkei gibt man oft erst die flüssigen Zutaten in die Schüssel. Und dann kommt so viel Mehl dazu bis es passt. Der Rest...naja.
Und ich habe irgendwann beschlossen, dass ich keine pdfs rezensiere. Zum einen kann man sich keinen haptischen Eindruck vom Buch machen. Und dann ist es ja schon so, dass ich mir ein bisschen Arbeit mache mit den Rezesnionen. Ein gedrucktes Buch als Wertschätzung kann man dann doch erwarten, finde ich.

Cooketteria hat gesagt…

@ milchmädchen
Yep, das stimmt. Allerdings habe ich mehrere Wochen gezögert, die Rezension zu veröffentlichen. War mir nicht sicher, ob ich das PDF nicht einfach zurückschicken und das Buch vergessen sollte. Besonders, weil es sich so anhören könnte, als ob die Rezension nur negativ ausgefallen ist, weil ich mich wegen dem PDF geärgert habe. Als ich mich dann entschied, sie doch zu veröffentlichen, habe ich noch ein paar Dinge geändert. Mir war es wichtig, möglichst genaue Einzelbeispiele/Fehler aufzuzählen, damit die Leser sehen, dass es sich nicht um eine "Rachebewertung" handelt. Hoffentlich ist das auch so rübergekommen. Schönes Buch, aber viel zu viele untaugliche Rezepte. So.

Cooketteria hat gesagt…

@ Susanne
Ausserdem werkeln sie in der Türkei ja auch gerne mit Mengenangaben wie kleines Teeglas, grosses Teeglas, Wasserglas, Mokkatasse, (Salat)Schüssel und ähnlichem lustigen Hohlmassen. :-)

Und dass dann nach gewisse Zutaten nach Gefühl zugegeben werden, praktizieren wir ja alle auch zu Hause. Aber solche Angaben haben nichts in einem Kochbuch zu suchen. Der Autor weiss, wie sich die Teige anfühlen sollen, wie dick die Suppe sein muss, wie die Konsistenz des Fleisch sein soll. Aber ich weiss es nicht und entsprechend enttäuschend können die Ergebnisse ausfallen. Und das ärgert mich, denn es gibt viele Leute, die weniger Kocherfahrung besitzen und solche Fehler nicht von vornherein erkennen können.

War mein erstes und zugleich letztes PDF. Nicht nur wegen der Wertschätzung, sondern auch weil es sehr viel mühsamer ist, mehr Arbeit bedeutet und einfach keinen Spass macht. Dann warte ich lieber, bis das Buch in der Bibliothek verfügbar ist oder lasse es halt ganz sein.

Alice hat gesagt…

Hmm... Also ich habe mir das Buch vor kurzem gekauft, weil es mich sofort begeistert hat, die ganze Aufmachung, die Fotos und die Mischung mit den Geschichten rund um die türkische Küche finde ich klasse. Habe mir auch schon einige Rezepte zum Nachkochen markiert, die es demnächst geben wird. Bin gespannt, ob ich dann der gleichen Meinung bin wie Du :-) aber noch bin ich sehr angetan von diesem Buch :-)

Liebe Grüße
Alice

Anonym hat gesagt…

Einfach ärgerlich, ich hatte das Buch auch schon in der Hand... :-(

Cooketteria hat gesagt…

@ Alice
Wie gesagt, auf den wahrscheinlich hübschen Fotos konnte ich nicht viel erkennen, die Geschichten nicht gut entziffern und wenn in einem Buch auf den ersten Blick so viele Fehler auftauchen, ist die Sache für mich gegessen. Solch grobe Fehler hätten spätestens beim Verlagslektor die Alarmglocken schrillen lassen müssen, denn beispielsweise ist in einem Brot immer mehr Mehl als Flüssigkeit enthalten. Oder wenn ganze Arbeitsschritte fehlen. Bei der Basilikumlimo wird beispielsweise Zitronenschale verlangt. Es wird aber nicht angegeben oder erklärt, wie diese von der Frucht entfernt werden soll. Abschälen oder fein abreiben? Danach soll die Schale mit dem Zucker in einer Schüssel mit den Fingern zu einer Paste zerrieben werden. Ich nehme dann an, dass ich in diesem Fall fein abgeriebene Schale verwenden sollte. Aber andere Leute wissen das nicht und werden sich freuen, wenn sie das Ganze mit abgeschälter Schale versuchen werden.... Wenn die Rezepte nichts taugen, helfen auch schöne Bilder und nette Geschichten nicht weiter. Habe mir jetzt die englische Originalausgabe bestellt und werde mal schauen, ob dort auch schon so viele Fehler enthalten sind oder ob die erst später "reingeschmuggelt" wurden

Liebe Grüsse zurück

@ kochpoetin
Die interessanteste Frage ist doch: Wer ist schuld? Autor oder Lektor? Ärgerlich und ärgerlicher, sozusagen.

Anonym hat gesagt…

Ojeh ... ich kann Deinen Ärger mehr als verstehen. So krass ist mir das zum Glück noch nie passiert.
Liebe Grüsse aus Zürich,
Andy

cahide hat gesagt…

Jahide ssagt dazu, ich lebe in der Türkei und denke, inzwischen ganz gut die türkische Küche zu kennen, eben auch die unkonkreten Angaben in den Kochbüchern, wenn diese dann überseztz werden, wird alles nur noch schlimmer. da hilft nur ausprobieren.
Traditionell werden eben die Mengenangaben nicht in ml, kg, oder g angegeben, und bei Mehl soviel wie nötig, hab ich unendlich pobiert, bis es geklappt hat. mir hat immer geholfen, bei nachbarin zuzusehen.
In den anatolischen Dörfern gibt es keine Waage, nur Tee- oder Wassergläser, daher diese Mengenangaben. In der regel wird ein wasserglas mit 200ml berechnet, ein kleines teeglas mit 50ml.
übrigens die Suppe mit Portulak und kichererbsen ist ein genuß, wenn man weiß, wie es geht.
liebe grüße cahide